Bernhard – Missbrauch durch einen Priester und emotionale Abhängigkeit

Missbrauch durch einen Priester und emotionale Abhängigkeit

Die Liebe hört niemals auf.

1. Korinther 13,8

 

  • Ein Vater darf alles sein, nur nicht geil auf sein Kind

Ich habe mich dazu entschlossen, meine eigene Geschichte nicht von der Forderung nach unbedingter Transparenz auszunehmen; ich werde sie erzählen, auch wenn es mir und anderen weh tut, ich dabei Freunde verliere und mich angreifbar mache. Es ist die Geschichte eines homosexuellen Übergriffs, einer mich tief verwundenden Verletzung. Gewiss gibt es Missbrauchsopfer, denen es weitaus schlimmer ergangen ist als mir. Es ist aber vielleicht hilfreich, wenn Menschen, die jetzt über Sexualmoral und Missbrauch reden, einmal konkret erfahren, wie es ist, wenn die Vertrautheit einer kindlichen Welt zerbricht, und was einer tun muss, um seine aus den Fugen geratene Welt wieder bewohnbar zu machen.

Als es mir passierte, erlebte ich eine Kirche, die nicht in der Lage war, mich zu schützen, und die später – als die Dinge ans Tageslicht kamen – nicht einzuordnen vermochte, was mir widerfuhr. Dass ich heute noch in der Katholischen Kirche bin, sie liebe und nicht für den Abgrund des Bösen in der Welt halte, kommt mir selbst als ein mittleres Wunder vor. Ich habe mich aus Glauben noch einmal bewusst für die Katholische Kirche entschieden, obwohl ich ihre Abgründe vielleicht besser kenne als die meisten. Die so unvorstellbar Besudelte, vor den Augen aller Welt Entstellte, ist „meine Kirche“. So Gott will, werde ich ihr treu bleiben, welche Schlammlawinen auch immer noch über sie hinwegrollen mögen.

Der Missbrauch durch einen homosexuellen Priester, den ich als Jugendlicher erfuhr, hatte schlimme lebensgeschichtliche Folgen für mich. Viel Porzellan wurde zerschlagen, nicht nur in meiner eigenen Biographie, auch in meinem Umfeld und in den Seelen von Menschen, die ich liebte und liebe. Ich vermeide es inzwischen, von mir als „Opfer“ zu sprechen, weil ich keine Mitleidsrhetorik brauche und weil es mir zunehmend unerträglich ist, wie das Wort „Opfer“ dazu benutzt wird, um ganz anderen Interessen Durchschlagskraft zu verleihen. Als Betroffener wünsche ich mir etwas sehr Schlichtes: dass Täter aus dem Amt entfernt werden und zuverlässige Vorkehrungen getroffen werden, damit ein Charakterprofil, das ich gleich beschreiben werde, nachhaltig und sicher vom Priesteramt ferngehalten wird. Mehr nicht.

  • Meine Geschichte – mein Weg

(zum Verständnis: Priester und Pfarrer sind in der katholischen Welt Bezeichnungen für ein- und dieselbe Person)

Geboren wurde ich einem kleinen Dorf am Rhein, in dem in den 60-er Jahren des vorigen Jahrhunderts die katholische Welt scheinbar noch in Ordnung war. Mit vielen anderen Jungen war ich Ministrant und durfte in den opulenten liturgischen Inszenierungen meiner Pfarrei eine kleine Rolle spielen. In der Grundschule gab es katholische Lehrerinnen, die es tatsächlich noch schafften, die Kinder klassenweise am helllichten Mittwochnachmittag zum Kinderrosenkranz in der Kirche zu versammeln. Wir mussten dabei knien. Da ich als Kind eine schöne Stimme hatte, durfte ich wochentags in der Frühe „Requiem“[1] in der Knabenschola singen. Wir schnitten Berge von Gras für die Fronleichnamsprozession, stellten Fahnen auf, richteten blumenreiche Altäre her, spielten Choräle in der Kirchenmusik. Doch die heile Welt hatte Risse. Da es mit der Sonntagsmesse nicht getan war, war von uns verlangt, dass wir auch noch die Nachmittagsandacht besuchten, wozu wir am örtlichen Kino vorbeimussten. Dort standen unsere Freunde aus weniger frommen Elternhäusern, warteten auf den Beginn von „Fuzzy gegen Tod und Teufel“ und lästerten über uns, die wir feingeschniegelt und mit dem Gesangbuch in der Hand in die Kirche mussten.

  • Kindheit und Elternhaus

Das Elternhaus, ein Arbeiterhaushalt mit einer alle Beteiligten überfordernden Nebenerwerbslandwirtschaft, war problematisch. Der Vater hatte vom Krieg ein Trauma zurückbehalten. Ein halbes Kind noch, hatte man ihn zum Soldaten gemacht; als Flakhelfer überlebte er den Hamburger Feuersturm und danach, in Kriegsgefangenschaft, ein Hungerlager in Frankreich. Heimgekehrt, hätte er wohl zunächst Psychotherapie gebraucht; aber man verhalf ihm – wie man das damals so machte – zu einer Ehe. Mindestens in ihrer ersten Hälfte war sie geprägt von cholerischen Ausbrüchen meines Vaters und von Gewalt, die sich hauptsächlich gegen mich, das älteste von vier Kindern, richtete. Heute glaube ich den Grund zu kennen. Meine Mutter hatte, bevor ich zur Welt kam, eine Totgeburt. Nun war ich ihr erstes Kind, das sie entsprechend vergötterte und wohl lieber hatte als meinen groben, psychisch gequälten Vater. Es war wohl schiere Eifersucht, die mich als Kind immer wieder die Schmiedehand meines Vaters spüren ließ. Die Brutalitäten gegenüber dem geliebten ersten Kind vertieften den Riss zwischen den Eheleuten. Meine Mutter muss wohl auch keine guten Erfahrungen mit Sexualität gemacht haben, was man aus vielen abwertenden Äußerungen und Gesten entnehmen konnte. Das Ideal eines Mannes stellte für sie der vermeintlich asexuelle Priester dar. So einer zu werden, war wohl ihr Lebenstraum für mich, ihren ältesten Sohn. Allerdings gab meine schulische Karriere zu diesen Hoffnungen keinen Anlass; nach dem zweiten Sitzenbleiben nahm der Vater den pubertierenden, in sich vergrabenen Totalversager von der Schule und steckte ihn in eine Lehre: „Wenn man auf der Schul´ nix taugt, muss man halt schaffe gehn …“ Der Konflikt zwischen Vater und Sohn wurde damit nicht entschärft, die Gewalt vonseiten des Vaters erreichte bedrohliche Ausmaße. Endlich glaubte meine Mutter, eine Lösung gefunden zu haben: Der Junge musste aus dem Haus! 15-jährig lieferte sie mich an der Pforte des örtlichen Pfarrhauses ab. Der Pfarrer war so entgegenkommend, mich unkompliziert und kostenlos in seine Obhut zu nehmen. Ich atmete auf. Trotz der horrenden Dinge, die bald geschehen sollten, suchte ich nur noch ganz selten den Weg nachhause. Meine Mutter ahnte nicht, dass die Pfarrhoftür für mich zur Tür ins Fegefeuer werden sollte.

Anfangs fühlte ich mich wie im Paradies. Ich erlebte einen überaus väterlichen Menschen, der sich in jeder Weise meiner annahm, mir ordentliche Kleider kaufte, mich auf Reisen mitnahm, mich in seine Pläne einweihte, mich die Komplet mitbeten ließ, mir beibrachte, wie man an einem feinen Tisch mit Messer und Gabel umging, dazu auch eine weiße Serviette benutzte, wenn die arme, kaum wahrgenommene Haushälterin den Herren serviert hatte und wieder in der Küche verschwand. Der Priester hatte als Seminarist am Krieg teilgenommen und hielt sich viel darauf zugute, etwas vom wahren Leben (und dem scheinbar gefährlichen Charakter von Frauen) erfahren und im Dreck der Schützengräben gelegen zu haben, „nicht wie die Bürokraten im Ordinariat“. Er entstammte einem begüterten Elternhaus und hatte die Geldmittel für einen größeren Wagen, einen ambitionierten Haushalt mit etwas Luxus, jedenfalls exquisiten Weinen und diversen Spirituosen. Denen wurde ausgiebig zugesprochen, wovon ich, der mir nicht einmal die Barthaare sprossen, nicht ausgeschlossen war. Als Hausbewohner befand ich mich in einer privilegierten Rolle, aber ich war nicht der einzige Junge im Umkreis des Pfarrers. Sein ganzer Stolz stellte die halbe Hundertschaft Ministranten dar, die insbesondere an den kirchlichen Hochfesten auf perfekte Performances getrimmt waren. Die erlesene Schar der Oberministranten, zu denen ich gehörte, obwohl ich mich bei der liturgischen Choreographie eher tölpelhaft anstellte, wurde häufiger zu Essen und ausufernden Trinkgelagen eingeladen. Ich erinnere mich noch an eine Fahrt ins umliegende Weinland, und dabei besonders an den vollalkoholisierten Zustand des Wagenlenkers bei der Rückfahrt. Fahrtenlieder schmetternd und im Zickzackkurs, der uns Halbwüchsige im Fond jauchzen ließ, schaukelte er die Limousine in den Pfarrhof. Wir fanden das cool, vermieden es aber, jemand vom Charakter dieser Exkursionen zu berichten. Sie sollten uns wohl sagen: Priester sein ist eine tolle Sache, – die Steigerung von Ministrant, ein großes Abenteuer für geborene Chefs. Natürlich sollten wir alle Priester werden wie er. Umsonst wird man ja nicht Oberministrant.

Der Kontrast zwischen der tristen Welt eines kleinen, bierholenden Schriftsetzerlehrlings und dem noblen Ambiente im Pfarrhaus konnte nicht krasser sein. Ich hatte das große Los gezogen. Ich hatte einen Vater gefunden, wie ich ihn mir kaum besser vorstellen konnte, auch wenn ich wieder an einen Choleriker geraten war; er konnte in Tobsuchtsanfälle ausbrechen, wenn irgendetwas nicht nach seinem Willen lief. Weil er selbst ein meisterlicher Improvisator und eigentlich am liebsten Domorganist geworden wäre, zitterten sich die hilflosen Aushilfsmusiker an hohen Feiertagen durch die Liturgie. Jeder Patzer, der ihnen unterlief, konnte zur Eskalation geraten.

  • Das Unvorstellbare

Es war Sommer und sehr heiß. Es gab irgendetwas Schweißtreibendes zu schleppen. Ich packte mit an, es machte mich stolz, gebraucht zu werden, gab mir ein Gefühl von kameradschaftlicher Anerkennung. Mein Priestervater und ich saßen erschöpft und schwitzend auf einer Bettkante, auf Körperfühlung. Geschafft! Zwei Bierflaschen waren zur Hand. Die Bügelverschlüsse ploppten, wir stillten unseren Durst. Der Pfarrer legte seinen Arm um mich. Das hatte er schon öfter getan. Aus irgendeinem Grund mochte ich das nicht, aber jetzt konnte ich mich dem wohl nicht entziehen. Plötzlich spüre ich seinen Kopf an meinem Kopf, seine Lippen auf meinem Nacken. Ich höre sein erregtes Keuchen, rieche den Bieratem, spüre seine Zunge, und plötzlich – die heftig zupackende Hand im Schritt meiner Hose …

Ich weiß nicht mehr, wie ich mich aus der Umarmung befreite, wie ich ihn zurück und aus dem Zimmer stieß. Ich weiß nur noch, dass ich den Riegel der Tür vorspannte und minutenlang zitternd im Raum stand. Diese Konvulsionen von damals habe ich heute noch im Erinnerungsprogramm meines Körpers. Ich weiß für immer, wie sich das anfühlt.

Ich war ahnungslos, ein halbes Kind noch, kaum richtig in der Pubertät. Und ich war im Netz, war gefangen, war abhängig. Ob sich heute noch jemand vorstellen kann, dass ich damals keine Worte und keine Begriffe dafür hatte, zu deuten oder zum Ausdruck zu bringen, was mir da widerfuhr? Hätte ich Worte dafür gehabt, ich hätte nicht gewusst, an wen ich mich wenden soll. Meine Mutter, die den Pfarrer verehrte? Meinen Vater, mit dem ich überkreuz war? Die Polizei? Den früheren Kaplan, einen integren, vorbildlichen Priester? Ja, an ihn vielleicht – aber er war weit weg. Was hätte ich ihm sagen sollen? Es lagen ja keine Worte bereit. Vor allem war ich selbst weit weg von jeder Form von Verstehen, von jeder Möglichkeit, an das heranzukommen, was mich schüttelte. In mir war wortloser Ekel. Es war der Moment, in dem etwas begann, was über Jahre nicht aufhören sollte: eine Trennung von anderen Menschen, als trüge ich eine Art Kainsmal[2] mit mir herum, einen Bann durch Berührung. Ich fand mich eingeschlossen in mich, schleppte ein dunkles Geheimnis mit mir herum, eine Schuld, die ich mir paradoxerweise selbst anrechnete, statt mich in Zorn auf den Anderen zu befreien. Es brauchte 15 Jahre, in denen sich mein inneres (mehr und mehr auch äußeres) Drama zuspitzte, ehe ich von außen dazu provoziert wurde, meine Monade zu verlassen und zum ersten Mal zu reden.

  • Lange Last

Auch später noch fiel es mir schwer. Fast 50 Jahre nach der Tat hatte ich endlich den Mut, die Begleitung eines Psychotherapeuten in Anspruch zu nehmen, um die Wunden meiner Kindheit, die Wunde der verheerenden Grenzüberschreitung, die Wunde meiner gestohlenen Jugend, in Ruhe anzuschauen und in einen Prozess der Annahme und Vergebung zu kommen. Bis dahin hatte ich eingehendere Fragen meiner Frau, meiner Kinder und Freunde nach meinen frühen Jahren immer unwirsch abgetan, hatte Bilder vernichtet und Zeugnisse über diese Zeit vergraben. Ich lebte mein halbes Leben mit der Fiktion, dass dieses Leben – mein richtiges Leben – mit 30 Jahren erst begonnen habe. Mit einem wenig heroischen Akt von Befreiung: einer Flucht. In der Psychotherapie erst wurde mir deutlich, dass ich das Kind, das ich selber war, verachtete, dass ich dieses Kind noch immer nicht sein wollte, dass ich diesem Kind die Schuld anrechnete, die ihm von anderen angetan wurde.

Ich hätte das Pfarrhaus verlassen müssen, hätte vor ihn treten müssen mit dem Satz: „Ich verlasse dich, du hast mein Genital berührt!“ Es gab kein „Du“. Herr Pfarrer, ich verlasse Sie! Sie haben mein Genital berührt! Was für unmögliche, blasphemische Sätze! Jemand hätte mich da herausholen müssen, aber diesen jemand gab es nicht. Ich blieb, – lebte fortan in Spannung, ja panischer Furcht, dass sich wiederholen könnte, wofür ich keine Worte hatte und was ich von mir abspaltete. Nichts war mehr wie vorher. Die Gefahr war da, und diese schreckliche, meine Tage und Nächte begleitende Angst! Diese Angst vor Nähe, vor Körperkontakt, vor Umarmungen, vor sentimentalen Momenten, in denen er mich an sich zog, in denen er wieder einmal kuschelig wurde, in denen sich der Übergriff wiederholen könnte. Ich hätte mit fliegenden Fahnen davonrennen müssen. Aber ich blieb, gefangen in der Falle der Dankbarkeit. Heute weiß ich, dass es eine Travestie[3] der Geschichte vom Verlorenen Sohn war. Der „Vater“ hatte mir, dem „verlorenem Sohn“ so viel Gutes getan; er hatte mich in Gnaden und ohne eigenen Verdienst angenommen, mich neu eingekleidet und mich an die reich gedeckte Tafel geholt. Nur fühlte es sich in seinen Armen so falsch an.

  • Versetzung

Nach einer gewissen Zeit wurde ich halbwegs aus der unmittelbaren Notlage erlöst. Der Pfarrer musste, weil Konflikte anderer Art eskalierten und er sich gesundheitlich und psychisch am Ende fühlte, die Gemeinde verlassen. Er kam in eine kleine Gemeinde in einer abgelegenen Bergregion einer anderen Diözese, wo sich Fuchs und Hase Gute Nacht sagten. Bald schon hatte er wieder eine stattliche Schar von Ministranten um sich versammelt. Ich vermutete lange Jahre, dass die Diözesanleitung von der Übergriffigkeit des Priesters wusste und es ein interdiözesanes Abkommen zur „Entsorgung“ problematischer Priesterbiographien gab. Nachforschungen ergaben, dass ein solches Abkommen nicht existierte, es sich zumindest nicht in den Akten der fraglichen Diözese fand.

Der Pfarrer zog also fort, nicht ohne seinen „Sohn“ großzügig zu versorgen. Warum er mich da nicht fallen ließ? Ich weiß es nicht. Ich glaube, es war mehr als ein Schweigeabkommen. Auch ich zog etwa zur gleichen Zeit fort aus meinem Heimatdorf. Es war 1972. Ich hatte die Schriftsetzerlehre halbwegs erfolgreich abgeschlossen. Der Pfarrer hatte Höheres mit mir im Sinn. Und soviel ist richtig: Ohne ihn hätte ich vermutlich nie mein Abitur gemacht. Es fand sich auf seine Initiative hin das Internat einer Ordensgemeinschaft, wo ich das Abitur nachholen konnte, und er bezahlte mir die Ausbildung: Dann könne ich ja Priester werden. Ich hatte dazu keinen wirklichen Bezug, aber nahm das Angebot „dankend“ an, ohne mir bewusst zu werden, dass ich gekauft war. Der Priester hielt engen Kontakt. In den Ferien musste ich ihn besuchen, was meine Eltern traurig stimmte, was sie aber als Opfer für die „höhere Berufung“ ihres Sohnes hinnahmen. Sie wussten nicht, dass die Besuche bei meinem Missbraucher für mich Horrortrips waren, die halbwegs heil zu überleben waren. Der kleine Ort in der Bergregion war eine Idylle; nachts hörte ich das Flüstern des Dorfbrunnens, wenn ich endlich allein in meinem Zimmer war.  Zuvor galt es, sich rasch aus der unteren Etage zu verabschieden („Bin plötzlich wahnsinnig müde!“). Bloß keine ausufernden Weingespräche nach der Komplet! Schnell weg, die Schlafzimmertür geräuschlos verriegeln!

Der Kontakt zu meinen Eltern war schwierig; ich sah sie kaum noch, schwadronierte oberflächlich daher, konnte mich über nichts Tiefergehendes mit ihnen austauschen. Wie geht´s dir? Gut! Mehr war aus mir nicht herauszubringen. Im Internat lebte ich nun äußerlich frei, innerlich aber wie in einem geschlossenen Kassiber der Einsamkeit, der von höheren Kräften durch die Zeit geschoben wird. Äußerlich fröhlich, war ich in Wirklichkeit porendicht in mein Geheimnis eingeschlossen. Niemand kam an mich heran. Zu offener Rede darüber, wie ich mich fühlte und was ich auf dem Herzen trug, war ich nicht in der Lage. Stundenlang lag ich in meiner Internatsbude, döste vor mich hin, ergab mich Tagträumen. Wenn ich mit anderen zusammen war, konnte ich virtuos über objektive Sachen sprechen – über alles, was nichts mit mir zu tun hatte. Hätte mir jemand die Maske vom Gesicht gerissen, ich hätte alles abgestritten. Zu wirklichen Freundschaften mit unverstelltem seelischem Austausch reichte es nicht hin, schon gar nicht mit Personen männlichen Geschlechts. Noch zwanzig Jahre später, als ich schon einen Verlag leitete, bekam ich Magenkrämpfe, wenn ich allein mit einem Mann in einem Zimmer war. Glücklicherweise besserte sich das später.

  • Internat, Abitur und mein „Förderer“

Wie wohl fast jeder Junge träumte ich während der Jahre im Internat von Sex und sehnte mich nach einer Freundin. Aber ich war ja für etwas Anderes bestimmt, sollte Priester werden. Und so mischte sich die Scheu, ein Mädchen anzusprechen, in den Wunsch, meinen „selbstlosen“ Förderer nicht zu betrügen. Der schickte Briefe mit Geld; und ich musste mich bedanken, was für mich eine herkulische psychische Aufgabe darstellte, galt es doch Beziehung vorzutäuschen, Freude zu heucheln und Dank abzustatten. Öfters passierte es, dass ich Folgebriefe mit Vorwürfen vom Internatspräfekten ausgehändigt bekam. Mit rotem Kopf musste ich lesen, ob das Geld nicht angekommen sei oder ob ich es nicht nötig hätte, mich zu bedanken. Es war wohl in dieser Zeit, dass ich heimlich eine Art Pelagianer wurde, indem ich mir sagte: Ich werde mir nie im Leben mehr etwas schenken lassen. Ich werde der Dankbarkeit nie wieder in die Falle gehen. Ich hasste Dankbarkeit geradezu – eine Kategorie, die ich unbewusst im Umfeld von Abhängigkeit und Erpressung ansiedelte. In Hinsicht auf Gott ist das natürlich eine fürchterliche Einstellung: Wie kann ein Mensch überhaupt ein Verhältnis zu Gott haben, wenn er nicht Danke sagen kann? Noch Jahre später beklagte sich meine Familie: Dir kann man gar nichts schenken! Warum willst Du nicht, dass man dir eine Freude macht? In den Tiefen meiner Seele hatte „beschenkt werden“ und „Danke sagen müssen“ mit Erpressung zu tun.

Mit fortgeschrittenem Alter absolvierte ich die Schule nun mit Leichtigkeit und machte ein gutes Abitur. Ich wusste, was von mir erwartet wurde: dass ich in das Priesterseminar der Diözese eintrete. Ich tat es nicht. Wohl auch, um aus dem Dunstkreis meines Missbrauchers herauszukommen, wurde ich Novize in der Ordensgemeinschaft. In Wahrheit wäre ich lieber nach Kalifornien geflüchtet, um am Strand Haschisch zu rauchen und mich mit nackten Hippiemädchen den Freuden der Liebe hinzugeben. Im Grunde hatte ich kaum eine nennenswerte geistliche Praxis: Wenn ich betete, dann höchst oberflächlich. Ich glaubte irgendwie an Gott, aber was war das für ein Gott! Ein Gott, der brutal meine Freiheit einforderte und mir deshalb rechts und links und hinten alles zustellte. Weil ich aus meinem Kassiber nicht herauskam und weil ich glaubte, nicht anders handeln zu können, legte ich mir nach Kreuzfahrerart den vorgezeichneten Weg als „Wille Gottes“ zurecht. Die innere Parole, der ich folgte, lautete: Gott will es! Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Punkt. Der Termin des Ordenseintritts nahte. Ich hatte mir die Gemeinschaft kaum angeschaut und ließ mich ein paar Wochen treiben, bis mich der Brief des Novizenmeisters, eines feinen, asketischen Mannes, aufschreckte: Wo ich denn bliebe, man höre nichts von mir, ob ich es mir anders überlegt hätte? Umgehend versicherte ich, dass alles in bester Ordnung sei, packte meine Koffer und stieg in den Zug.

  • Novizenzeit

Ich weiß noch, wie ich „fromm“ in der Kapelle kniete und mich von außen beim Beten beobachtete. Ich war einer dieser Studenten, die nie Probleme bereiten, ein passabler Theologe zudem. Natürlich wurde die regelmäßige Beichte erwartet. Ich wusste da nichts von Belang zu sagen. Dem gütigen Beichtvater, dem das verdächtig war, musste ich als ein asexuelles Wesen vorkommen. Soll es ja geben. In Wahrheit kochte es in mir. Ich kultivierte den Zwiespalt zwischen Gehorsam und Lust, zwischen heroischer Keuschheit und verbotenen Träumen. Hätte es damals schon das Internet gegeben, ich wäre wahrscheinlich ersoffen in Pornographie. Im Grunde tat ich alles, um eine gespaltene Persönlichkeit zu werden, mit einer aufgeräumten, hellen Schauseite und einer weggedrückten Nachtseite, in der sich Phänomene von Voyeurismus und süchtigem Verlangen nach Sex entwickelten.

Dieses trügerische Arrangement geriet ins Wanken, als ich mich – schon nach der Diakonenweihe – in ein Mädchen verliebte. Ich hatte mich gerade unter vielen Windungen endgültig von meinem Missbraucher gelöst, indem ich ihn einfach nicht zur Feier einlud, was mir prompt den Vorwurf einbrachte, er habe nun erkannt, wer ich in Wahrheit sei: „… einer vom Stamme Nimm!“ Geld würde ich nehmen, aber sonst sei ich eiskalt und ohne Dank. Das letzte stimmte nicht ganz. Ich hatte Urlaub und war dankbar: Ich musste nicht zu ihm! Mein Bruder nahm mich nach Taizé mit, wo ich die bezaubernde S. kennenlernte und Feuer fing. Wie es der Zufall – oder wer sonst Regie führte – so wollte, kam sie just aus der Gemeinde, in der mein Missbraucher nun wirkte, worüber zu sprechen ich freilich geflissentlich mied. Wir waren uns sympathisch, sprachen viel und gern miteinander. In Sachen Liebe passierte nicht viel, nicht einmal geküsst haben wir uns. Was aber folgte, war ein intensiver brieflicher Austausch, in dem ich nach und nach meinen Zwiespalt zwischen Beruf und Liebe zu ihr thematisierte. Sie wollte davon nichts wissen, sprach ihrerseits, wovon ich nichts wissen wollte: von ihrem Pfarrer, der in seelischer Not sei, der vereinsame, ein Alkoholproblem habe usw. Sie habe das Gefühl, ich müsse mich unbedingt dieses Mannes annehmen, damit er nicht vor die Hunde gehe. Ich wiegelte ab. Ich könne das nicht, sie müsse das bitte verstehen. Sie verstand mich nicht, mahnte mich eindringlicher, bis das Ganze schließlich eskalierte: Ich sei „ein Schwein“, wenn ich nicht endlich über meinen Schatten springen würde.

Der nächste Brief an die ferne Geliebte kostete mich unglaubliche Kraft, denn ich musste zum ersten Mal das Siegel brechen, mit dem ich den Missbrauch in mir verkapselt hatte. Ich musste das Unsagbare sagen. Ich kotzte es heraus. Da war es in der Welt. S. drang nicht weiter in mich, unser Kontakt verlor sich. Für mich war es aber nur ein erster, leider zunächst folgenloser Anfang. Ich schämte mich des Geschehenen, rechnete mir das Verhängnis als eigene Schuld an und unternahm nichts weiter. Professionelle Hilfe zu suchen, wäre dem Eingeständnis einer Lebenslüge gleichgekommen. Ich hätte riskiert, dass die Fassade zusammenbrach. Bloß das nicht! Ich wollte mich zu dieser Zeit partout nicht meiner Realität stellen. Oder hatte ich nicht die Kraft dazu? Ich tat jedenfalls, was ich nicht hätte tun sollen: ich ließ mich zum Priester weihen. Der Tag meiner Primiz war kein schöner Tag; ich hatte derartige Allergieprobleme, dass mir der Hausarzt eine Kortison-Spritze geben musste, damit ich über die Runden kam. Ich hatte nichts vorbereitet, ließ die Feierlichkeiten über mich ergehen, improvisierte die nötigen Ansprachen. Alles war korrekt. Aber ich war nicht in meinem Element, kam seelisch weder an mich, noch an die heiligen Handlungen heran, nahm den Dienst wie eine Rolle an, die jetzt zu spielen von mir verlangt wurde.

  • Doppelleben

Es ging nach nicht einmal zwei Jahren schief. Ich sollte an der Universität meine Studien fortsetzen, was mich menschlich geradezu zerriss. Zur Hälfte war ich der fromme Priester, zur anderen Hälfte ein von Triebwünschen Getriebener, der nach visuellen Reizen, nach Berührungen und Hautkontakt gierte. Ich war drauf und dran, ein Doppelleben zu etablieren, vielleicht sogar den Fluch zu vervollständigen und ein missbrauchter Missbraucher zu werden. Als ich meine Frau kennenlernte, spürte ich, dass ich im Zwiespalt nicht weiter existieren konnte ohne mich selbst und andere zu zerstören. Ich konnte mich nicht einmal mehr irgendwohin schieben lassen, ein Habitus, den ich mir in den Jahren der Schmerzen angeeignet hatte. Ich musste mich entscheiden, musste etwas mit „Freiheit“ anfangen, einem Wort, zu dem ich noch keine Beziehung entwickelt hatte. Ich ließ mich also beurlauben und kehrte von dort nicht mehr in meine alte Welt zurück – eine Welt, in der ich (was mir heute noch leidtut) schlimme Scherben hinterließ. Ich tat das mir eigentlich Unvorstellbare: Ich stellte den Antrag auf Laisierung, brach alle Brücken hinter mir ab.

  • Aufarbeitung

Missbrauch nahm man Mitte der Achtziger Jahre nicht besonders ernst; man betrachtete ihn womöglich als wohlfeilen Grund für meinen Ausstieg aus dem Amt. Obwohl ich meinen Fall ausführlich dargestellt und Namen genannt hatte, wurde ich nicht mit dem Täter konfrontiert, was ich eigentlich erwartet hatte. Wollte man die Wahrheit nicht wissen? Drangen die Vorwürfe von den römischen Instanzen, denen mein ausführlich mit Missbrauch begründetes Gesuch auf Laisierung 1985 vorgelegt wurde, gar nicht bis in die deutsche Diözese, in der mein Missbraucher noch immer wirkte? Wir heirateten, als kein Signal von der Kirche kam, ohne kirchliche Zustimmung. Erst sechs Jahre später kam die Bewilligung meines Antrages auf Laisierung – ohne Kommentar und ohne dass man mich dazu noch einmal gehört hatte.

Wir konnten unsere Ehe endlich auch sakramental besiegeln. Bis dahin war ich kirchenrechtlich gesehen ein „fugitivus“ – ein Flüchtling, ein irregulär Abgehauener.

Weil ich mich bis zu diesem Punkt wie ein Ertrinkender an den Sicherheiten einer fingierten Existenz geklammert hatte, geschah der Übergang nicht bruchlos. Ich verzieh mir den ersten wahren Akt von Freiheit in meinem Leben lange nicht, rechnete ihn mir auf mein vermeintliches Schuldkonto. Dabei war er lebensrettend. Ich hätte meine Dissoziation[4] vorangetrieben in immer größere innere Spaltungen und wäre verkommen in hilflosem selfhelp. Die Freiheit, die ich mir nahm, wird mich lebenslang daran erinnern, dass sie ein Geschenk Gottes ist – ein Geschenk nicht nur für mich, ein Geschenk für jeden. Sonst hätte uns Gott als Roboter erschaffen. Und er hätte sich selbst als Superhirn verfasst, das alle Abweichungen schlecht funktionierender Menschmaschinen gnadenlos erfasst. Gott ist aber Liebe und das Anziehende, das Menschen in Freiheit und durch Freiheit auf einen immer eindeutigeren Weg zum Guten bringt. Sich Freiheit nehmen, hat einen hohen Preis. Manchmal muss man dafür alle Sicherheiten, alle Zustimmung, alles Wohlwollen hinter sich lassen und durch die Gasse der allgemeinen Verachtung gehen. Aber an Gott – an Gott muss man festhalten und immer weiter die Ohren aufsperren, um seinen Ruf ins Leben nicht zu überhören. Unsere Ehe wurde mit drei Kindern und zwei Enkeln gesegnet. Meine Frau und ich führen ein geistliches Leben. Wir fühlen uns auf ungewöhnlichen Wegen geleitet, zuletzt doch wunderbar geführt und reich beschenkt. Dem Herrn gehört unser Leben. Der Glaube der Kirche ist unser Glück. Wir versuchen ihn, so gut wir es können, zu leben und an andere Menschen weiterzugeben. 

  • Was mir geholfen hat

Was ich hier nicht erzähle, ist die komplizierte Geschichte meiner Verletzungen und deren Jahrzehnte währenden psychischen Folgen. Nur so viel: Wer immer missbraucht wurde, muss den „Lieben Gott“ neu suchen und weite Wege der Öffnung, der Heilung und der Selbstannahme gehen. Auch ich war an einem Punkt, an dem ich mir sagte: Ich werde in meinem Leben niemand mehr an mich heranlassen, mich niemandem mehr anvertrauen, keine Geschenke mehr annehmen, niemand mehr danken müssen, von niemand mehr abhängig sein und mich von keinem mehr führen lassen[5]. Ein solcher Mensch ist nicht nur eine beziehungstechnische Herausforderung für seine Mitwelt; er ist auch ein struktureller Atheist (oder mindestens ein Deist[6]), so sehr die fromme Fassade das Gegenteil zu bekunden scheint. Zwei Dinge will ich doch nennen, die mich über die Jahre in hellere Regionen brachten: das Gebet und die Beichte. Es war wohl erst in Taizé und in den Neunziger Jahren, dass ich richtig beten lernte: Aufatmen in heilsamer Stille, ganz lange in Gottes guter Gegenwart sein. Vielleicht war es sogar das aus tiefer innerer Freude auftauchende, in weit herkommender Freude aufleuchtende Gesicht von Frére Roger, das mich beeindruckte und in mir ein anderes Gottesbild hervorrief, Anfänge von Heilung. Später riet mir ein guter Freund zum täglichen Rosenkranz; seit vielen Jahren möchte ich ihn nicht mehr missen. Er ist für mich die Verbindungsschnur zwischen den unausdenkbaren Geheimnissen Gottes und den Rätseln meiner Biographie geworden. Du gehst hinein und kommst anders wieder heraus: in heiterer Gelassenheit, manchmal tiefer Freude. Du weißt, du bist geführt. ER ist da. Von ähnlicher Bedeutung war für mich das Sakrament der Versöhnung. Seit über zwanzig Jahren gehe ich alle paar Wochen zur Beichte – anfangs wohl ziemlich falsch und voller halbgarer Selbstanklagen, dann änderte sich das. In der Beichte lernte ich von mir reden – ich konnte das ja nicht. Das war das Wichtigste, dazu eine realistische Selbsteinschätzung. Hier machte ich erste Schritte in liebevoller Selbstannahme. Heute ist die Beichte ein wunderbares Gottesgeschenk: Ich darf mich befreien lassen von dem Ballast von gestern und neu starten wie in einen verheißungsvollen Sommertag. Im Ganzen hat mich immer das Wort von Frère Roger getröstet, wonach die Wunden der Kindheit „die Quellen neuen Lebens“ sind. Das ist wahr.

Weil ich so nahe dran war, glaube ich heute ziemlich genau rekonstruieren zu können, was in meinem Missbraucher vorging und welches Charakterprofil er hatte. Mein anfänglicher Hass auf ihn verwandelte sich in Jahrzehnten zunehmend in Verstehen, dass er, der Täter, wahrscheinlich selbst ein Opfer seiner Umstände war: des Krieges, vielleicht seines Elternhauses. Geholfen haben mir dabei Exerzitien (Übungen), die ich vor einigen Jahren bei einem indischen Priester machte. Mir wurde aufgetragen, wieder in Beziehung zu kommen mit meinem (längst verstorbenen) Missbraucher. Am Abend, auf der Bettkante meines Zimmers, kam ich auf eine verrückte Idee. Der Mann musste doch im Internet zu finden sein! Das gibt es doch gar nicht, dass einer, der so lange in der Öffentlichkeit stand, nicht im Internet auftaucht! Schon häufiger hatte ich versucht, Spuren von ihm zu finden, immer vergebens. An diesem Abend aber ging ich noch einmal auf Google/Bild, gab seinen Namen und den Ort ein – und sofort sprang mir im ersten Suchfenster sein Portrait ins Auge. Mir schoss das Blut in den Kopf; mich überschwemmten die Bilder und Gefühle jener Tage. Das war eine Botschaft: Ich sollte für ihn beten, über ihn nachdenken, mich mit ihm versöhnen. Ich legte das Smartphone zur Seite, nahm den Rosenkranz zur Hand. Tage später suchte ich ihn noch einmal unter eben den Angaben, unter denen ich ihn nur kurz zuvor entdeckt hatte; inzwischen aber war sein Bild wie von Zauberhand wieder gelöscht, warum auch immer. Dass er mir noch einmal „gezeigt“ wurde, bevor er endgültig im digitalen Orbit verschwand, ist eines der Zeichen, die ich gläubig deute.

Der Mann war homosexuell – mit einer ephebophilen Seitenprägung. Woher ich das weiß? Er sagte es mir nicht, aber die gestörte Weise, wie er mit mir und anderen halbwüchsigen Jungen umging, auch wie er von Frauen sprach, lässt keinen anderen Schluss zu. Er vergötterte seine Mutter; aber er verachtete zu gleicher Zeit geschlechtsreife Mädchen und jüngere Frauen, ignorierte sie, redete nicht mit ihnen oder sprach in sexistischer, geradezu obszöner Weise von ihnen. Die „Mädchenjugend“ – es gab sie in der Gemeinde (mit verständlich linker Schlagseite) natürlich auch – ließ er links liegen. Der von älteren Frauen betriebene „Frauenbund“ hingegen, in dem er der gefeierte Hahn im Korb war, blühte. Wenn ich mit ihm im Auto fuhr, zog ich die Beine zur Seite, in der Furcht, dass er die Hand auf meinen Oberschenkel legen könnte, zumal er mir einmal in einem Anfall von Offenherzigkeit gesagt hatte, Frauen seien für ihn keine Gefahr, aber bei „Knabenschenkeln“ könne er schon einmal schwach werden…

Wie wurde so jemand Priester? Ich denke, er war ein frommer junger Mann, der irritierende Neigungen in sich spürte, aber dem Ethos seiner Zeit und seiner katholischen Umwelt entsprechend „keusch“ leben wollte. Das heroische Priesterideal kam seinen Wünschen und seinem kämpferischen religiösen Pathos entgegen. Sehr stark war in ihm der Wunsch, „väterlich“ zu sein, als Vater der Gemeinde wahrgenommen zu werden, wiewohl er immer nur von der starken Mutter, kaum einmal von seinem Vater, einem geschäftigen Unternehmer, sprach. Die pastorale Arbeit ruft nach väterlichen Menschen. Wo Priester dieser Suche aus vollem – besser gesagt: reinem – Herzen begegnen können, entfalten sie Segen und finden selbst ihr Lebensglück darin, Hirte und Vater zu sein. Meine Heimatgemeinde empfand meinen Missbraucher tatsächlich als einen starken pater familias, der kraftvoll und uneigennützig für alle möglichen Dinge sorgte, bei denen es etwas zu entwickeln gab. Die Kirche wurde renoviert, ein Pfarrheim wurde gebaut; er investierte sogar privates Geld in den Ausbau der Kirchenmusik. Wahrscheinlich wirkte er lange Jahre, vielleicht sogar anderthalb Jahrzehnte, ohne sich etwas zuschulden kommen zu lassen. Diese väterliche und durchaus auch schöne Seite an ihm bekam ich in geradezu übertriebener Weise zu spüren. Ich sollte „sein Sohn“ sein, sein Geschöpf. Er wollte etwas aus mir machen, etwas nach seinem Bilde – einen Priester, wenn es auch anfangs so aussah, als habe er sich das untauglichste Material der Welt ausgesucht: ein gescheiterter, in seinem Selbstbewusstsein am Boden zerstörter, spät pubertierender Schlacks. Soweit wäre die Welt noch halbwegs in Ordnung gewesen, hätte ich den großen Bruch nicht erlebt, den Bruch zwischen Vatersehnsucht und Triebwunsch, der mir von einer Minute auf die andere die Welt auf den Kopf stellte. Ein Vater darf alles sein, nur nicht geil auf sein Kind.

  • Dreimal den Vater verloren

Genau diesen affektiven Mechanismus habe ich aber am eigenen Leib erfahren. Der Mann, der meine Jugend kaputtmachte (und fast mein Leben zerstört hätte), hatte eine echte Sehnsucht danach, mir den Vater zu ersetzen, wirklich „mein Vater“ zu sein, bis der verhängnisvolle und unter der Decke gleichzeitig wirkende Triebimpuls in ihm die Oberhand gewann, ich das Objekt seiner Begierde wurde und er mir an die Hose ging. Fortan wollte er mir wohl immer noch imposanter beweisen, dass sein Vatersein kein Fake war. Aber die Grenze war überschritten und sie war jederzeit wieder in Akten sexueller Gewalt überschreitbar. Das Drama lag jede Minute in der Luft. Ich hatte den zweiten Vater verloren. Und dass ich den dritten Vater, den „Lieben Gott“ im Himmel, verlieren sollte, ahnte ich zum damaligen Zeitpunkt noch nicht. „Du hast den Vater gleich dreimal verloren, hast dreimal dein Herz zugemacht“, spiegelte mir mein Psychotherapeut, was in der Tiefe geschehen war. Während ich drinsteckte in meinem Verhängnis, hatte ich ein grausames Gottesbild – ein Gott, der wollte, der mir die Freiheit abnahm, der mich irgendwohin verfügte. Ich hisste die weiße Flagge, kapitulierte auf der ganzen Linie und meinte, es wäre fromm, nackten Gehorsam zu beweisen und zu sagen: „Dein Wille, Vater, geschehe!“ Ich habe seither lange nachgedacht, was ein wahrer Vater ist, wofür es ihn gibt, was ein Kind von ihm erwarten darf: Er beschützt dich, deinen Körper, deine Seele. Er gewährt dir Intimität. Er befreit dich aus der Symbiose mit der Mutter und hilft dir, ein freier, erwachsener Mensch zu werden. Er ist ein starkes und gerechtes Vorbild, ein Mann, dem du nacheifern kann. Er ist, wie du sein möchtest. Er zeigt dir, wie der Vater im Himmel ist ….

  • Schande für alle

Ich habe die Kernerfahrung des gebrochenen Vaters häufiger mit Fachleuten besprochen, und sie bestätigten mir, dass das Umkippen von echter Väterlichkeit in übergriffige Begierde nicht untypisch für „ephebophile“ Täter sei, ob sie nun im Priesteramt auftreten oder – wesentlich häufiger noch – in familiären Kontexten auf verhängnisvolle Weise die Grenzen überschreiten. Ich mag das von Magnus Hirschfeld eingeführte Wort „Ephebophilie“ (griech.: Liebe zu Jünglingen) nicht, lehne es im Grunde ab, weil es ein übler Euphemismus ist. Liebe ist es ja in den seltensten Fällen, häufig nur die instrumentelle Abrichtung, den Gebrauch eines Jungen zur Stillung der eigenen Lust. Früher benutzte man das deutsche Wort „Knabenschänder“ für die gleiche Sache. Man meidet dieses Wort heute, weil es der nachhaltig betriebenen Akzeptanz sexueller Präferenzen nicht dienlich erscheint und weil es nach älteren Herren klingt, die im Schutz der Nacht den Straßenstrich abgrasen. Das Wort trifft aber exakt die existenzielle Erfahrung von mir und anderen Betroffenen. Wie du dich fühlst, wenn du das erlebt hast? „Geschändet“ trifft es leider genau – geschändet, entehrt und benutzt. Knabenschänderische Priester haben aber nicht nur verbrannte Erde in den Seelen junger Menschen hinterlassen. Sie schändeten, entehrten, benutzten das Priesteramt, ja sie brachten die ganze Kirche in Schande und Verruf. Sie sorgten dafür, dass Menschen die Katholische Kirche verachten, als wäre sie ein Sammelbecken von Korrupten und Perversen. Sie tauchten all die Anständigen, die ihr Leben für die Ausbreitung des Evangeliums gaben und geben, ins Zwielicht. Sie nahmen das ganze Volk Gottes in Sippenhaft.

Je länger ich persönlich mit dem Thema gerungen habe, desto deutlicher wurde mir, dass ich nicht bei meinem Groll stehenbleiben darf, den ich der Tatsache verdanke, dass sich mir ein abgründiger Aspekt von Homosexualität in die Erinnerung gebrannt hat. Ich sehne mich danach, dass meine Kirche Menschen gerecht wird, die sich ihre sexuelle Orientierung nicht ausgesucht haben. Ihnen muss die Kirche, soweit es irgend geht, entgegenkommen mit Verständnis und der Eröffnung von Lebensmöglichkeiten. Hier wie überall gilt das Axiom von „et“ … et: das ganze Gesetz und die ganze Barmherzigkeit. Der simpelsten Agenda zu folgen und Homosexualität pauschal als normale Farbe auf der sexuellen Palette der Moral zu etablieren, erscheint mir aufgrund „unserer“ Kirchenerfahrungen – ich benutze noch einmal den Plural – als ein Irrweg. Und es gibt eine Reihenfolge: Wenn die Kirche ihr existenzielles Problem mit homosexuellem Missbrauch gelöst hat, muss sie nachdenken, wie man homosexuellen und bisexuellen Menschen, die sich der Herausforderung eines christlichen Lebens stellen möchten, eine bessere Heimat in der Kirche geben kann. Eines durch das andere zu lösen, führt noch tiefer in die Krise…

Dieser Beitrag ist eine gekürzte, bearbeitete und autorisierte Fassung aus:

Bernhard Meuser, Freie Liebe – Über neue Sexualmoral, Verlag fontis, ISBN 978-3-03848-203-1


[1] Das sogenannte „Requiem“ leitet sich von der ersten Zeile des lateinischen Einleitungsgesanges der gregorianischen Totenmesse ab: Requiem aeternam dona eis, Domine = Ewige Ruhe schenke ihnen, o Herr“.

[2] Kain tötete im 4. Kapitel des Genesisbuches seinen  Bruder Abel; Gott versah ihn  mit einem Zeichen, das ihn als den Mörder auswies, ihn aber auch vor der Tötung bewahrte.

[3] Das Wort kommt aus dem Französischen (travesti = verkleidet), und meint eine schräge, verdrehte Geschichte, im Theater oft, wenn Frauenrollen von Männern (und umgekehrt) übernommen werden.

[4] Das Wort Dissoziation kommt von lat. dissociare = trennen, scheiden und bezeichnet in der Psychotherapie den Prozess der verdrängenden Abspaltung und des Auseinanderfallens von Persönlichkeitselementen, die normalerweise zusammenhängen.

[5] Die Organisation „Lichtweg“ kümmert sich um die Opfer sexueller Gewalt. Auf der informativen Homepage findet sich folgende Einschätzung: „Die Folgen sexueller Gewalt prägen oder zerstören das Leben von Männern ebenso wie dasjenige weiblicher Opfer – wobei sich die Folgen den Geschlechterrollen entsprechend äußern. Männer bleiben seltener auf ihre Opferrolle fixiert und überdecken ihre seelischen Verletzungen öfter mit einer harten Schale, besonderem Ehrgeiz, oder indem sie besonders hilfsbereit sind. Nicht selten leiden sie an anhaltenden Beziehungsstörungen, Angstzuständen oder Suchtproblemen, schämen sich aber gerade als Mann, notwendige therapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen.“  www.lichtweg.de/jungen.php

[6] Vom lat. deus = Gott. Der sogenannte Deismus leugnet nicht die Existenz Gottes. Der Gott der Deisten ist aber gewissermaßen ein „Gott im Ruhestand“, einer, der die Welt erschaffen hat, sich aber von ihr abgewandt hat und sich nicht mehr um sie kümmert.

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